Old fashioned NEW AFFAIRE ?

Vielleicht wird es sich am Ende der 80er Jahre als Umbruch in der DDR-Rockgeschichte erweisen, dass nicht mehr nur "neue" und "andere" Bands nachrücken, sondern sich zunehmend auch das Gesicht einer ganzen Rocklandschaft verändert. Zu den Entdeckungen und Erfahrungen, die es 1988 zu machen gab, gehört zweifellos das Projekt NEW AFFAIRE aus Berlin.

Was NEW AFFAIRE signalisiert und selbst rückhaltlos angeht, ist ein Mangel an Experimenten in Rockmusik- und Theaterlandschaft gleichermaßen. Orientieren sich Rockmusiker immer wieder an gängigen internationalen Standards, bleiben die "Rocktheater"- Versuche im traditionellen Musical stecken, so verdient NEW AFFAIRE Respekt dafür, dass wirkliches Experimentieren verbunden wird mit enormem Risiko. Aber gerade die Bereitschaft, an die Grenze des ästhetisch wie technisch-organisatorisch Machbaren zu gehen, die nicht zu übersehende Selbstüberschätzung, das selbstlose sich einbringen wie ungebrochenes Selbstbewusstsein, die gleichzeitige Rücksichtslosigkeit wie Naivität gegenüber der Kunstgeschichte - all das macht das unbewältigte wie enorm anregende des Projektes aus. Was sich hier an Ambitioniertheit und Engagiertheit zu offenbaren versucht, ist alles andere als Normalfall dieser Generation.

In fünf Aufführungsserien war NEW AFFAIRE´s "Magic Show" 1988 zu erleben - im Januar im HdJT in Berlin, im April im Babelsberger Lindenpark im Rahmen des OFF GROUND VII & VIII, im August in Radebeul, Ende September in der Berliner Seelenbinder-Halle und Anfang Dezember in Halle. Ca. 50 Stunden baute die Technikcrew gemeinsam mit diversen Hilfskräften ihren eigenen Bühnen-Kunstraum in die Säle, installierte ihre multimediale Projektionstechnik, die Musikanlage, ein Geflecht aus Vorhängen und Projektionswänden zwischen denen die Musiker Arnim Bautz (voc, git), Bo Kondren (keyb) und Paul Landers (dr) ergänzt durch Gastdrummer für den Garagenbandact während des Bühnenumbaus, sowie die Tänzerinnen und Tänzer  Annette Riedel, Heike Schmalfuß und Philipp Rusch agieren. Nicht selten stehen den Veranstaltern die Haare zu Berge, treibt es den Organisatoren den Schweiß auf die Stirn, bietet sich dem Blick der Zuschauer ein Chaos, das sie mit Ratlosigkeit entlässt. Nun wäre es aber wenig produktiv, ein Projekt, das sich so rigoros dem Experimentieren verschreibt, an den Pannen messen zu wollen. Mit der notwendigen Aufgeschlossenheit ist die Substanz des Unternehmens nicht zu übersehen und bei optimalen technisch-organisatorischen Vorraussetzungen, wie im April in Babelsberg, offenbart sich die Faszination der Inszenierung auch dem jugendlichen Publikum.

NEW AFFAIRE präsentiert sich als multimediales Spektakel, das eine komplexe Montage aus Rockmusik, Tanz und Bildender Kunst ist. Da überlagern sich eigenwillige englischsprachige Rocktitel, expressive Tanzdarbietungen, Film- und Bildprojektanten zu einer assoziationsträchtigen Collage.

 

Nun sind Multimediale Ereignisse keineswegs etwas Neues und es fällt dem Kunstwissenschaftler nicht schwer, die kunstgeschichtlichen Versatzstücke zu benennen, die hier auf der Bühne bemüht werden. Schnell sind die Filmsequenzen aus Fritz Langs Metropolis (1927) zu identifizieren, da zitieren die mit riesigen geometrischen Gebilden agierenden Tänzer Oskar Schlemmers Bauhauserfahrungen im Triadischen Ballett (1922), da sind Expressivität von Ausdruckstanz und Modern Dance unschwer erkennbar, da zeigt sich die Brauchbarkeit der Erfahrungen des schwarzen Theaters, da erinnert raffinierte Lichttechnik an Effekte der Lichtgestaltung bei Appia und Craig. Old fashioned NEW AFFAIRE? Mitnichten. Fast alles, was sich gegenwärtig in "innovativer" Medienästhetik neu gebärdet, ließe sich in der Kunstgeschichte der Moderne festschreiben. So gibt es heute kaum ein Terrain, das nicht schon betreten, gibt es kaum Gestaltungsformen, die nicht schon ausprobiert worden wären. Hier muss man ganz einfach jeder Generation zugestehen, dass sie sich auf eigene Weise die Kunstgeschichte aneignet; und zweifellos wird diese gebrochen sein durch die Fragen, die diese Generation bedrängen.

Es ist eher ein Zusammen- als ein Zufall, wenn zu Beginn des Jahres 1988 in Berlin zwei Kunstereignisse Aufmerksamkeit erregten, deren Gemeinsamkeit wohl darin besteht, dass sie genauer als andere Projekte Realerfahrungen reflektieren. Zeitgeist vermitteln: es ist die Inszenierung von Volker Brauns Übergangsgesellschaft am Maxim-Gorki-Theater und eben NEW AFFAIRE. Trifft die Übergangsgesellschaft die Befindlichkeit der heute Vierzigjährigen, so NEW AFFAIRE das Lebensgefühl der Zwanzigjährigen. Zeitgeist in der Sicht zweier Generationen, mit den jeweiligen generationsspezifischen Artikulationsformen - Theater und multimedialem Rockspektakel. Ist das Medium der Braunschen Reflexion noch in starkem Maße die Sprache, so das der Fernsehkinder die Sinnlichkeit der Töne und Bilder. Zwei Generationen offenbaren ihre Ideale und Hoffnungen, ihre Ansprüche und Träume, gebrochen in den Ängsten und Verzweifelungen, den Beklemmungen und Verkennungen, der Frustration und Leere - Folgen ungelebten Lebens. Und in beiden Fällen erfolgt das Be- und Durchdenken von Gegenwart und gemachten Erfahrungen im Zusammenprall von heutigem und historischem Kunstmaterial. Übergangsgesellschaft - so, wie ein Kunstmaterial in ein anderes übergeht - Übergänge im geschichtlichem Fluss. Braun mit Tschechow nicht fertig und die junge Generation macht ihre kunstgeschichtlichen Entdeckungen als Teil eigener Selbstfindung.

NEW AFFAIRE´s Programm ist eine Abfolge von 18 gleichberechtigten Bildern und Musiknummern, die komplexe Erfahrungs- und Assoziationsangebote sind, welche nicht entschlüsselt, sondern wahrgenommen werden sollen, aus denen keine eindimensionalen Botschaften herauszulesen sind. Sie belegen unterschiedlichste Realitätserfahrungen. Substantiell zusammengehalten wird das Ganze durch "Night Of Golden Rain" (3.Szene) und "Other Side" (18. Szene), deren Texte nicht zufällig auch im Programmheftabgedruckt sind. Thematisiert ist hier des Menschen Warten und die Sehnsucht nach Leben, seine Bedrängung durch Empfindungen des Beraubtseins, der Einsamkeit, des Leids und schließlich des Erstarrens; da ist aber auch die Sehnsucht des sich Erhebens über alltägliche Erfahrung, die Sucht nach Leben zwischen Himmel und Hölle, da ist die Vision der anderen Seite, des Unaussprechbaren, des Unbekannten, des Ungewissen - des Übergangs.

Immer wiederkehrend sind Töne und Bilder der Bedrückung, des Verfolgtseins, der Entmenschlichung - der Mensch, zurückgeworfen auf seine Kreatürlichkeit. Am deutlichsten wohl in Szenen wie "Maschine" oder "Sexless", wo das unerbittliche menschliche Dasein als Teil einer Mensch-Maschine-Symbiose in den Sequenzen aus Metropolis geradezu choreographiert in den Projektionen gezeigt wird, wo in den an Schlemmer orientierten Mensch-Figuren-Tänzern die Mechanisierung menschlicher Bewegung, seine Puppenhaftigkeit vorgeführt wird, wo Bildprojektionen Figuren zeigen, die in ihrer Archaik und Kreatürlichkeit an Höhlenmalereien erinnern, wo der tänzerische Dialog mit einer bizarren Lichtprojektion zu sehen ist. Das Genarrtsein des Menschen und die Flüchtigkeit von Realität zeigt „Hot Babe“ mit der Projektion von Negativfilm, der durch bewegte Stoffbahnen abgetastet wird und so nur in seiner Vergänglichkeit, im Moment des Augenblicks präsent und nichtgreifbar ist, ebenso wie das lockende Auto, das unerreichbar immer wieder davonfährt, zurücklassend den Nichtmitgenommenen. Bilder der Verwüstung und des Gewissens vermitteln in „Candle“ die Projektion von Bretons „Schlachtfeld“ New York und die Abtastung einer endlosen Menschenmasse durch eine wandernde Vorhangbahn, die einzelne Menschen aus der Masse herauslöst, die Anonymität der Masse aufsprengt, die plötzlich Gesichter bekommt, welche uns fragend ansehen.

Die vielen teils unbeschreiblichen Bilder (Ines Rastig, Arnim Bautz) und tänzerische Aktionen sind kaum zu deuten, würde man sie dadurch doch ihrer Assoziationskraft berauben. Eindringlichkeit ist wohl ein herausragendes Merkmal dieser Kunstwelten wie auch der Musik. Es wäre unsinnig, letztere in aktuelle Welten einzuordnen. Dies würde schwer gelingen, zu eigenwillig ist ihre Struktur. Episch könnte man diese Musik nennen, denn fas alle Titel bestehen ausschließlich aus kurzen viertaktigen Phrasen, die in einer scheinbaren Endloswiederholung suggestive Eindringlichkeit erreichen. Musik zwischen Sehnsucht und Zorn, zwischen Melancholie und Aggressivität. Der musikalische Gestus der einzelnen Szenen findet sich auch in der darstellerischen Präsentation der Musiker, ihren ausgestellten Handlungen wieder, die zwischen stupider Gleichgültigkeit, herausfordernder Trotzigkeit und melancholischer Traurigkeit angesiedelt sind. Da ist nicht nur Aufruhr in den Augen, sondern auch ehrliche Hilflosigkeit.

 

Das herausragende Strukturmerkmal des Projektes ist die Ungeordnetheit, ist die Überlagerung der Musik- und Sprachfetzen, der Bilder und tänzerischen Bewegungen, die alle nur noch als Splitter, als Bruchstücke einer Kunstwelt wahrgenommen werden. Und selbst diese verändern beständig ihr Dasein, sind stetigen Überformungen ausgeliefert. So war NEW AFFAIRE nie fertig, von Aufführung zu Aufführung gab es Veränderungen – work in progress, kein Fixieren, sondern permanente Arbeit am Material. Werkstruktur offenbart hier gleichzeitig Weltsicht einer Generation, für die Realität als Ereignisflut wahrgenommen wird; Realitäten, die nur für Momente und Bruchstückhaft existieren; Welten von denen schwer zu sagen ist, ob sie real oder nur mediale Produkte sind. Entropie der Gedanken und Gefühle. Eine Welterfahrung, die für diese Generation schwer auf den Punkt zu bringen, die kaum strukturierbar ist. NEW AFFAIRE funktioniert so auch als ungewollter Reflex heutiger Lebensprozesse.

Erlebbar wird das für den Zuschauer in einer für ihn unantastbaren Kunstwelt, einem metaphorischem Vexierbild. Die Bühnenbegrenzung wird durch keine Kontaktaufnahme mit dem Publikum durchbrochen, dazwischen liegt ein Schleier in Gestalt der Vorhänge, die für den Moment eines Abends beiseite gezogen werden und Einblicke in die verborgene Welt gewähren, von der schwer zu sagen ist, ob sie Realität oder Traum ist, Alptraum oder Vision. Für den Zuschauer herrscht Verwirrung und er fragt sich, wo er sich eigentlich befindet. Verwirrung aber als Moment der Unruhe ist der erste Schritt zur Befragung von Realität, ist der Impuls zum Aufsprengen von Gleichgültigkeit.

Erst im Kontext der hier beschriebenen Substanz des Projektes NEW AFFAIRE wäre über seine Schwächen zu sprechen, dies aber vor allem mit den Machern selbst. Zweifelsohne quietscht es da im organisatorischem Räderwerk, gibt es Probleme in der Koordination der multimedialen Show, gibt es Holprigkeiten im Rhythmus der Inszenierung, sind dramaturgische Strukturen manchmal dem Zufall ausgeliefert, überhört man nicht unbedingt Probleme im musikalischen Zusammenspiel, ist die Frage der Professionalität und Perfektion gerade beim  Offerieren einer rigorosen Kunstwelt ernst zu nehmen.

Was bleibt ist ein Projekt, das sich nicht in Genügsamkeit übt und schließlich in Belanglosigkeit verschwindet, sondern eher als Herausforderung zu verstehen ist, das in produktiver Reibung noch mehr Konsequenz erreichen könnte; Reibung die entsteht durch Konkurrenz auf diesem Experimentierfeld und durch Veranstalter, die sich dem Angebot stellen und NEW AFFAIRE die entscheidende Bewährungsprobe bieten – das Publikum.

Dr. Erhard Ertel, Januar 1989 im Journal für Unterhaltungskunst

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